Suizid

Unterschätzt: Selbstmord bei Studierenden

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Zum Anlass des jährlichen internationalen Suizidpräventionstag am 10.September möchte auch Wissen Was Wirkt das seit jeher tabuisierte und unterschätzte Thema des Selbstmords in den Vordergrund rücken.

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt sich alle 40 Sekunden ein Mensch das Leben. Bei jungen Menschen zwischen 15-29 Jahren ist Selbstmord die zweithäufigste Todesursache. Auch unter Studierenden ist die Prävalenzrate hoch. Ein Cochrane Review von 2014 untersuchte deshalb die Wirkung von Programmen zur Vorbeugung von Selbstmord bei Studierenden. Was kam dabei heraus?

Selbstmord kommt erschreckend häufig vor

Formal versteht man unter Selbstmord eine bewusste, absichtliche Handlung, die das eigene Leben beendet. Weltweit ist bei 1.4 % aller Todesfälle Selbstmord die Ursache, und die Häufigkeit, mit der Menschen zu dieser finalen Handlung greifen, ist auch in Europa erschreckend hoch. So nahmen sich 2015 56.000 Europäer* das Leben, darunter 10.200 Deutsche. In absoluten Zahlen lag Deutschland in dem Jahr an der Spitze, in relativen Zahlen knapp über dem europäischen Durchschnitt mit 12 Selbstmorden pro 100.000 Einwohner. In der Schweiz waren es im selben Jahr 13 und in Österreich 14 pro 100.000 Menschen. In Deutschland rangiert Suizid bei den häufigsten Sterbeursachen an 8. Stelle und ungefähr doppelt so viele Menschen verlieren ihr Leben durch Suizid als durch Verkehrsunfälle.

Totschweigen verdeckt die Tatsachen nicht

Diese Fakten sollten die Dimensionen des oft unterschätzen Themas Suizid auch für diejenigen, die bisher das Glück hatten, nicht direkt damit in Berührung zu kommen, ins Bewusstsein rücken. Denn obwohl es viele Sensibilisierungskampagnen wie zum Beispiel die Reden kann Retten-Kampagne des Kantons Zürich und der Schweizer Bahn gibt, wird das Thema oft totgeschwiegen. Für diejenigen, denen ein lieber Mensch, Freund oder Angehöriger, der sich das Leben genommen hat, in Erinnerung bleibt, sind Zahlen nicht notwendig, um sich die Bedeutung des Suizids in der Gesellschaft vor Augen zu halten.

Infobox: Suizid im Zeitverlauf

Historisch betrachtet wurde der Suizid unterschiedlich bewertet:
• Im alten Rom und Griechenland galt Selbstmord als Verbrechen an der Gesellschaft. Er wurde von Dienern und Sklaven als Diebstahl am Herrn betrachtet, der als einziger über Leben und Tod regieren durfte. Deshalb musste in Griechenland für einen Selbstmord erst die Erlaubnis eingeholt werden; in Rom war es verboten, so zur Entkräftung des Staates beizutragen. In Zeiten der Not war die Selbsttötung im Gegenzug jedoch begrüßt.
• Im feudalen Japan galt der rituelle Selbstmord (seppuku) hingegen als ein ehrenvoller Weg, dem verstorbenen Lehnsherrn treu zu bleiben oder die möglicherweise durch ein Fehlverhalten oder eine Pflichtverletzung verlorene Ehre der Familie wieder herzustellen.
• Spätestens seit den Konzilen von Arles (452 n. Chr.) wurden von der christlich-katholischen Kirche alle Arten von Suizid verurteilt und als Mord betrachtet.
• Ab dem 17. Jahrhundert begann man Suizid offiziell mit Geisteskrankheit in Verbindung zu bringen und wissenschaftliche Untersuchungen des Selbstmordes in Verbindung mit geistigen oder psychologischen Problemen begannen unter anderem dank dem französischen Arzt Esquirol im Jahr 1938.
Quelle: Todesursache Suizid

Vor allem junge Menschen sind betroffen

Gemäß der Zahlen der WHO begehen weltweit vor allem junge Menschen zwischen 15-29 Jahren Selbstmord. Während dies oft Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen betrifft, sind auch in Europa jüngere Altersgruppen von Sterblichkeit durch Suizid berührt. In Deutschland zum Beispiel nahmen sich im Jahr 2015 laut dem statistischen Bundesamt 964 Personen zwischen 15 und 30 Jahren ihr Leben selbst – etwa ein Zehntel aller Suizidfälle im diesem Jahr.

Studienzeit – schönste Zeit des Lebens

In diese Altersgruppe fällt natürlich auch die Studentenpopulation. Tatsächlich ist es gemäß eines Cochrane Reviews, der 2014 veröffentlicht wurde, nicht selten, dass gerade Studierende an Selbstmord denken, ihn planen oder ausführen. Selbstmordraten von 6.5 (USA), 8.2 (Vereinigtes Königreich) und 10.0 (China) pro 100.000 Vollzeitstudierenden werden im Review zitiert.

Dabei sollte doch die Studienzeit eine der schönsten Zeiten des Lebens sein, voller neu gewonnener Freiheit, Unabhängigkeit, neuer Freunde etc. – oder etwa nicht?

Die Kehrseite der Medaille

Junge Frau vor fragmentiertem Spiegel.

Im Review genannte Beweggründe, die Menschen und auch Studierende zum Suizid bringen können, sind unter anderem Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Mangel an sozialer Unterstützung, psychische Erkrankungen (manisch-depressive Störungen, Schizophrenie, Angstzustände, Drogenmissbrauch) und eine persönliche Neigung zu depressiven Gedankengängen. Hinzu kommt akademischer Druck, Stress und Leistungszwang.

Sind Programme, um Suizid(gedanken) bei Studierenden vorzubeugen…

Die Cochrane Autoren legen dar, dass weniger als die Hälfte der Studierenden, die über Selbstmordgedanken oder andere ernste psychische Erkrankungen berichten, professionelle Behandlungen erhalten haben. Sie sahen deshalb den Bedarf an Programmen zur Vorbeugung von Selbstmord (Suizidprävention) für Studierende, die nicht bereits als selbstmordgefährdet bekannt waren (Primärprävention). Über diese wollten sie mehr erfahren und dabei die Wirkung dieser Programme auf Selbstmord, suizidales Verhalten sowie auf Wissen und Einstellung in Bezug auf Selbstmord untersuchen.

…von Nutzen?

Die Ergebnisse des Reviews sind ernüchternd, weil spärlich.

Die Autoren fanden nur 8 Studien, die bis auf eine alle in den USA durchgeführt wurden und die sich sowohl mit Primärpräventionen (deren Zielgruppe Studierende waren, die noch nicht als selbstmordgefährdet bekannt waren), als auch mit Sekundärprävention beschäftigten (Zielgruppe: selbstmordgefährdete Studenten).

Drei dieser Studien mit 312 Studierenden fokussierten sich auf Präsenzunterricht zu Suizid und Suizidprävention. Die Ergebnisse zeigten, dass Unterricht das kurzfristige Wissen über Selbstmord und Suizidprävention bei Studierenden erhöht. Das Vertrauen in die Fähigkeit, einen Selbstmord zu verhindern, kann sich kurzfristig verbessern. Jedoch konnten keine langfristigen Wirkungen nachgewiesen werden. Auch sind die Auswirkungen dieser Programme auf das eigentliche suizidale Verhalten nicht bekannt.

Vier weitere Studien mit 53 bis 146 Personen untersuchten die Wirkung von Trainingsprogrammen von Schlüsselpersonen („Gatekeeper“), die die Warnsignale für seelische Krisen oder Selbstmordgefährdung bei Studierenden in ihrem Umfeld erkennen und darauf reagieren lernen sollten. Diese Programme können bei Gatekeepern geringe bis mittlere Verbesserungen beim suizidbezogenen Wissen und dem Vertrauen in die Fähigkeit, einen Selbstmord zu verhindern, bewirken. Allerdings fanden die Autoren keine Belege dafür, dass solche Schulungen die Einstellung der Schlüsselpersonen zu Selbstmord kurzfristig verbessern oder langfristige Verbesserungen beim suizidbezogenen Wissen oder Verhalten bewirken.

Eine letzte Studie hatte eine direktere Vorgehensweise. Dabei wurde der Zugang zu Zyanid (Blausäure) in den Labors eingeschränkt und eine fachkundige Beurteilung von Studierenden vorgeschrieben, die als selbstmordgefährdet galten. Die Maßnahme bewirkte eine deutliche Verringerung der Selbstmordrate unter den Studierenden. Ergebnisse wurden bis zu dem Zeitpunkt jedoch nicht in anderen Hochschulen repliziert.

(Für detaillierte Ergebnisse bitte den vollen Bericht lesen)

Fazit

Junge Generationen, darunter Studierende, sind Hoffnungsträger der Zukunft. Dass Suizid in dieser Altersgruppe eine der häufigsten Todesursachen ist, sollte sehr ernst genommen werden und effektive Präventionsprogramme sollten an der richtigen Stelle eingesetzt werden.

So auch zum Abschluss die Autoren:

„Während viele junge Menschen, die nicht studieren, ebenfalls ein hohes Suizidrisiko haben, ermöglichen Universitäten einzigartige Zugänge zu einer Gruppe von Menschen, die einem hohen Suizid-Risiko ausgesetzt ist. Somit bieten sie zentrale, potenzielle Möglichkeiten für Primärprävention durch Lehrplanänderungen, soziale Normierung und Campus-Richtlinien. Neue Forschung wird benötigt, um die Auswirkungen von Bildungs- und Trainingsprogrammen auf die Primärprävention von Selbstmordabsichten und -verhalten bewerten zu können.“

Infobox: Informations- und Hilfeorganisationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Praktische Informationen auf Deutsch zu Selbstmord und fachliche, direkte Unterstützung gibt es

In Deutschland:
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)
Telefonseelsorge und weitere Links 
In Österreich:
• Österreichische Gesellschaft für Suizidprävention (ÖGS)
Telefonseelsorge und weitere Links
In der Schweiz:
Pro Juventute: Beratung und Hilfe für Kinder und Jugendliche
Dargebotene Hand: Beratung und Hilfe für Erwachsene
Beratungsangebote nach Kantonen

Text: Andrea Puhl

*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlechter.

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