1.11 Erklärungen zur Wirkung von Behandlungen können falsch sein

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Dies ist der Elfte einer Reihe von über 30 Blog-Artikeln, der sich auf die Schlüsselkonzepte zur besseren Bewertung von Aussagen zu Behandlungen bezieht, die vom IHC-Projekt (Informed Health Choices) entwickelt wurden. Jeder Blog-Artikel erklärt eines dieser Schlüsselkonzepte, um Aussagen zu Wirkungen von Behandlungen besser verstehen und einordnen zu können.

Sollte man Erklärungen zu Behandlungen auf den Zahn fühlen? Woher weiß man, wann man ihnen vertrauen kann?

Vielleicht haben Sie schon davon gehört, dass Nahrungsergänzungsmittel mit Fischöl die Konzentration von Schulkindern steigern können (1). Vielleicht haben Sie als Frau auch schon eine Hormonersatztherapie nach der Menopause zur Vorbeugung von Herzinfarkt und Schlaganfall angeboten bekommen (2).

Was haben diese beiden Beispiele gemein? Beide haben Patienten nicht den Nutzen gebracht, mit dem sie beworben wurden. Es gab Gründe dafür, zu glauben, dass beide Behandlungen theoretisch wirken; als sie jedoch getestet wurden, stellte sich heraus, dass in der Praxis keine von beiden wirksam war.

Nahrungsergänzungsmittel mit Fischöl scheinen nicht nützlicher als ein Placebo zu sein (3, 4), und für die Hormonersatztherapie bei postmenopausalen Frauen wurde ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall gezeigt, und kein Verringertes (5).

Um den Nutzen und den Schaden von Behandlungen präziser bewerten zu können, muss man zunächst zwei Dinge verstehen, bevor man Urteile über neue Arzneimittel fällen kann.

1. Es geht um die Fakten, nicht um die Schlagzeile

Schlagzeilen in Zeitungen sollen provokativ sein, nicht unbedingt informativ. Ben Goldacre, der Autor von Bad Science (dt. Titel: Die Wissenschaftslüge: Wie uns Pseudo-Wissenschaftler das Leben schwer machen), wies darauf hin, dass man die Daten und nicht die Schlagzeilen betrachten soll (1). Er schrieb über eine Schlagzeile in der englischen Zeitung „The Observer“, die Nahrungsergänzungsmittel mit Fischöl und ihre vermeintliche Fähigkeit anpries, die Konzentration bei Schulkindern zu steigern. Die massive, jahrelange Werbung in den Medien für eine Nahrungsergänzung mit Fischöl trug wahrscheinlich dazu bei, den weltweiten Absatz an Fischöl in den Jahren 2002 bis 2007 zu verdoppeln und einen kontinuierlichen Anstieg von acht Millionen Anwendern in den Vereinigten Staaten im Zeitraum von 2007 bis 2012 zu verzeichnen (6).

Der Nutzen von Fischölen wurde umfassend untersucht, und es wurde nachgewiesen, dass die in der Werbung versprochene Wirkung nicht einmal annähernd erzielt wird. Tatsächlich basierte die ursprüngliche Schlagzeile auf einer Fehlinterpretation der Originalstudie. Daher muss man davon ausgehen, dass es sich bei diesem vermeintlichen „Wundermittel“ um eine Täuschung handelte. Kurz gesagt, der Zeitungsartikel, der den Nutzen von Fischölen pries, basierte auf einer Studie mit bildgebender Untersuchung des Gehirns.

Die Kinder in dieser Studie erhielten entweder eine große Dosis an Omega-3-Fettsäuren, eine kleine Dosis an Omega-3-Fettsäuren oder keine Omega-3-Fettsäuren, und lösten dann einige Aufgaben zur Aufmerksamkeit während sie sich in einem Hirnscanner befanden, mit dem untersucht werden sollte, ob Teile ihres Gehirns darin unterschiedlich aufleuchteten. Aber was sagt das wirklich aus? Goldacre argumentiert, dass Vertriebsmitarbeiter und Wissenschaftler gerne mit aufregenden theoretischen Begründungen dazu, weshalb eine Behandlung eventuell wirkt, an Ärzte herantreten.

Aber lediglich zu zeigen, dass verschiedene Teile des Gehirns in einem Hirnscanner aufleuchten, ist etwas ganz anderes, als nachzuweisen, dass eine Substanz wie eine Omega-3-Fettsäure eine Wirkung auf wichtige, bedeutende Endpunkte in der Realität hat.

So haben sachgemäß durchgeführte Studien keinen Nachweis dafür ergeben, dass Fischöle einen Einfluss auf die Gesundheit oder die langfristige kognitive Leistung haben (siehe 1).

2. Man muss wissen, wann man sich auf Surrogat-Endpunkte verlassen kann.

Was ist ein Surrogat-Endpunkt? Ein Surrogat-Endpunkt ist ein Ergebniskriterium, welches in einer klinischen Studie gemessen wird und einen für Patienten relevanten Endpunkt indirekt misst (7). So kann bspw. bei Patienten, bei denen ein Risiko für einen Herzinfarkt besteht, der Cholesterinspiegel als Surrogat-Endpunkt für das Herzinfarktrisiko bestimmt werden. Manchmal sind Surrogat-Endpunkte sinnvoll, manchmal können sie aber auch irreführend sein.

Es ist bekannt, dass Patienten nach einem Herzinfarkt eine Herzrhythmusstörung (Arrhythmie) entwickeln können, und dass bei diesen Patienten ein höheres Risiko für einen plötzlichen Herztod besteht. Zur Prävention eines plötzlichen Herztods verschrieben Ärzte in den 1970er Jahren Patienten nach Herzinfarkt Antiarrhythmika der Klasse I in dem Bestreben, die Überlebensrate zu steigern. Dies war ein fataler Fehler und ist ein deutliches Beispiel für eine Behandlung, die theoretisch wirksam sein sollte, jedoch in der Praxis versagte. Noch schlimmer: In diesem Fall war die Behandlung sogar schädlich.

Spätere Studien ergaben, dass Antiarrhythmika der Klasse I im Vergleich zu Placebos das Risiko für einen plötzlichen Herztod bei Herzinfarktpatienten verdoppelten. Während es also vielleicht sinnvoll erschien, diese Arzneimittel zu verschreiben, vertraute man einem Surrogat-Endpunkt (einer vorhandenen Arrhythmie), um einen patientenrelevanten Endpunkt (plötzlicher Herztod) vorherzusagen.

Surrogat-Endpunkte können jedoch auch nützlich sein, zum Beispiel bei Patienten mit Typ-I-Diabetes, die ihren Blutzuckerwert messen, um die richtige Dosis Insulin zu bestimmen. Das Problem bei Surrogat-Endpunkten ist, dass man herausfinden muss, wann man sie verwenden kann und wann man vorsichtig sein muss.
Bis heute bestehen bei Surrogat-Endpunkten in vielen Bereichen Bedenken. In der Onkologie, in der fast monatlich neue Arzneimittel zugelassen werden, wird fortlaufend über den Nutzen von Surrogat-Endpunkten diskutiert, da nachgewiesen wurde, dass sie nur wenig mit patientenrelevanten Endpunkten korrelieren (8).

Zusammenfassend kann man feststellen…

Wenn der Leser nicht achtsam ist, kann eine neu veröffentlichte Studie „als Waffe benutzt“ werden. Die Fehlinterpretation von Daten durch die Erstautoren, die Fehlinterpretation seitens der Leser oder die fälschliche Anwendung durch Ärzte und Entwickler von Leitlinien können negative Auswirkungen auf die Ergebnisse bei den Patienten haben.

Seien Sie sich daher stets bewusst, dass Behauptungen über Behandlungen auch nur auf indirekter Evidenz beruhen können. Zum Beispiel kann bei einem Arzneimittel gezeigt worden sein, dass es eine Wirkung auf einen Surrogat-Endpunkt hat. Auch wenn diesesErgebnis nahelegen kann, dass die Behandlung möglicherweise eine positive Wirkung auf wichtige ‚Real-World‘ -Endpunkte (patienten-relevante Endpunkte) hat, belegt es diese nicht.

Daher muss man sich immer dessen bewusst sein, dass Behandlungen, die theoretisch wirken sollten, in der Praxis möglicherweise keine Wirkung zeigen und sogar schädlich sein können. Eine theoretische Erklärung, wie oder weshalb eine Behandlung wirken kann, ist – an und für sich – kein Beleg dafür, dass sie wirkt oder sicher ist.

Letztendlich muss man theoretische Erklärungen zur Wirkung von Behandlungen auf den Prüfstand stellen. Man sollte also nicht davon ausgehen, dass Ausführungen zu Behandlungen, die auf Erklärungen beruhen, wie eine Behandlung wirken könnte, richtig sind, außer es gibt Evidenz von hoher Qualität, die diese Behauptungen stützt.

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Übersetzt von: Brita Fiess

Originaltext

Literaturhinweise

Klicken Sie hier für weitere Lernmaterialien, die erläutern, weshalb Erklärungen zur Wirkung von Behandlungen falsch sein können.

Sie finden die weiteren Blog-Artikel dieser Reihe unter den Tags: #Schlüsselkonzepte #Key Concepts

*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

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