Sleeping Students

Macht späterer Unterrichtsbeginn Jugendliche klüger?

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Das neue Schuljahr beginnt vielerorts und für Jugendliche und Eltern heisst es wieder früh aufstehen. Ob sich Frühaufstehen mit dem natürlichen Biorhythmus von Jugendlichen verträgt, wird derzeit vermehrt diskutiert. Cochrane Autoren wollten wissen, ob ein späterer Unterrichtsbeginn positive Auswirkungen auf Gesundheit, schulische Leistungen und Wohlbefinden der Jugendlichen hat.

In vielen Schweizer Kantonen läutet die Schulglocke täglich bereits um 7:30 Uhr. Begründet wird dieser frühe Schulbeginn u.a. damit, dass die obligatorische Betreuungszeit früh am Morgen vielen berufstätigen Eltern entgegenkomme sowie den Familien morgens ein gemeinsames Frühstück ermögliche. Zudem könne durch den frühen Unterrichtsbeginn die vergleichsweise hohe Anzahl der empfohlenen Schulstunden für die weiterführenden Schulen in der Schweiz gewährleistet werden. Ausserdem bliebe den Jugendlichen dadurch auch mehr Zeit am Nachmittag für Hausaufgaben, Familie, Freunde und Hobbys.

Unterrichtsbeginn im europäischen Vergleich

Nur in Polen müssen die Schülerinnen und Schüler ähnlich früh aus den Federn wie in der Schweiz. In anderen europäischen Ländern können Jugendliche oft etwas länger schlafen. Beispielsweise beginnt in Deutschland und Österreich die Schule in der Regel um 8:00 Uhr. In Finnland fängt der Unterricht erst um 9:00 Uhr an. Trotzdem ist das Land im internationalen Vergleich von Schulleistungen (PISA-Studie) seit langem Spitzenreiter. Hinzu kommt, dass laut den Eurydice Erhebungen der Europäischen Kommission die Schweizer Schülerinnen und Schüler nicht nur früher am Morgen sondern auch insgesamt länger unterrichtet werden. Die empfohlene Mindestunterrichtszeit bei der höheren Schulbildung beträgt in der Schweiz 958 Stunden pro Jahr, während diese in Deutschland bei 914 und in Österreich bei 900 liegt. Im PISA-Vorzeigeland Finnland gehen Jugendliche sogar „nur“ 844 Stunden pro Jahr zur Schule.

Sollte der Unterricht später beginnen?

In der Pubertät verschiebt sich der natürliche Biorhythmus nach hinten, das heisst, Jugendliche schlafen abends später ein und wachen – wenn man sie lässt – entsprechend später am Morgen auf. Dies wird durch das Hormon Melatonin beeinflusst, welches bei Pubertierenden später am Abend als bei Kleinkindern oder Erwachsenen ausgeschüttet wird. Dennoch brauchen sie rund 9 Stunden Schlaf für eine optimale Leistung und eine gesunde Hirnentwicklung. Bereits 30 bis 60 Minuten mehr Schlaf könnte bei den Jugendlichen zu verbesserten schulischen Leistungen und einer höheren Motivation beitragen. Dagegen kann Schlafmangel unter anderem das Erinnerungsvermögen, die Rechengeschwindigkeit, die verbale Ausdrucksstärke, das abstrakte Denken und andere kognitive Fähigkeiten beeinträchtigen. All diese Fähigkeiten sind für gute schulische Leistungen von Bedeutung.

Wie sieht die Evidenz für einen späteren Unterrichtsbeginn aus?

Ein neuer Cochrane Review ging der Frage nach, wie sich ein späterer Unterrichtsbeginn auf die Schulleistungen, die Quantität und Qualität des Schlafs, das Wohlbefinden, die Anwesenheit und die Aufmerksamkeit der Jugendlichen im Unterricht auswirkt. Hierzu wurden 11 Studien mit insgesamt 297.994 Teilnehmenden im Alter von 13 bis 19 Jahren untersucht. Die Studien verglichen einen frühen mit einem um 15 bis 60 Minuten späteren Unterrichtsbeginn. Der spätere Unterrichtsbeginn wurde zwischen 2 Wochen bis zu einem Jahr erprobt. Auch wenn die Qualität der Evidenz der eingeschlossenen Studien sehr niedrig ist, weisen die Ergebnisse des Reviews darauf hin, dass ein späterer Unterrichtsbeginn sich möglicherweise positiv auf die schulischen Leistungen und die soziale Integration auswirkt und die Jugendlichen insgesamt länger schlafen. Jugendliche, die später in die Schule mussten, wiesen zudem einen geringeren Körperfettanteil, einen geringeren Body-Mass-Index und einen geringeren Taillenumfang als ihre Mitschüler und -schülerinnen auf. Ein späterer Unterrichtsbeginn kann sich auch positiv auf die psychische Gesundheit der Jugendlichen auswirken. Die Ergebnisse bezüglich der Unterrichts-Fehlzeiten bzw. der Aufmerksamkeit der Jugendlichen waren jedoch zu unterschiedlich, als dass sie Rückschlüsse für oder gegen einen späteren Unterrichtsbeginn zuliessen. Ein späterer Unterrichtsbeginn könnte auch negative Folgen nach sich ziehen, wie beispielsweise weniger Interaktionsmöglichkeiten am Morgen zwischen Eltern und Kindern. Aufgrund der Mängel in den einzelnen Studien müssen die Ergebnisse des Cochrane Reviews jedoch mit Vorsicht interpretiert werden.

Aktueller Stand im deutschsprachigen Raum

Im deutschsprachigen Raum wird schon seit einiger Zeit der spätere Unterrichtsbeginn diskutiert. In Deutschland gibt es bereits Schulen mit gleitendem Schulbeginn und offenem Schulende. So können beispielsweise die Schülerinnen und Schüler in manchen Gymnasien in Berlin und in einer Schule bei Aachen selbst entscheiden, ob Sie bereits zur ersten Stunde um 8:00 Uhr oder erst zur zweiten Stunde gegen 9:00 Uhr in der Schule erscheinen. Dieser gleitende Unterrichtsbeginn stösst nicht nur bei den Jugendlichen sondern auch bei den Lehrerinnen und Lehrern und Eltern auf Zustimmung. Da diese Form der gleitenden Unterrichtszeit erst seit 1,5 Jahren besteht, muss sich allerdings noch zeigen, ob sich dieses Modell auch langfristig bewährt. Auch in der Schweiz gab es bereits auf kantonaler Ebene und von einzelnen Schulen Initiativen, den späteren Unterrichtsbeginn einzuführen. Während parlamentarische Vorstösse in den Kantonen Zürich und St. Gallen abgelehnt wurden, haben einzelne Schulen in den Kantonen Basel-Land, St. Gallen, Bern oder Appenzell-Ausserrhoden ihren Unterricht bereits 20 bis 50 Minuten nach hinten verschoben und zum Teil auch eine Auffangzeit für die Frühaussteher eingerichtet. Jedoch stösst der spätere Unterrichtsbeginn nicht nur auf Zustimmung. An manchen Schulen sind bereits Diskussionen im Gange, ihn wieder aufzuheben.

Kurzum, ein gleitender Unterrichtsbeginn mit eventuell verkürzter Mittagspause und einer morgendlichen Auffangzeit könnte für alle Beteiligten eine Verbesserung darstellen. Hierdurch würden die Jugendlichen insgesamt mehr schlafen und dennoch Zeit für ihre Hausaufgaben, Freizeitaktivitäten und Familie haben. Über ausgeschlafenere Jugendliche würden sich wohl auch die Eltern und, nicht zuletzt, die Lehrerinnen und Lehrer freuen.

Text: Anne Borchard

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